Statement

 

Natur ist in sich formgebend und gestaltend. Fotografiert man diese bereits geformten Dinge, ist Fotografie im Verhältnis dazu eine „zweite Schöpfung“. Im ersten Schritt geht es um die Anordnung des Dings, darum seine Form, die das Ding von sich aus nicht nur „hat“, sondern „ist“, ins Bild zu setzen. Im zweiten Schritt wird das Ding in eine Form zweiten Grades inszeniert. Die zweite Schöpfung bringt die erste Schöpfung der Dinge erst wirklich zur Evidenz, zum Leuchten, in den Fokus unserer Wahrnehmung. Diese Art der Fotografie zielt auf erkennendes Sehen und anschauliche Erkenntnis. Sie bringt das Wesen des Dings zum Vorschein.

In Anlehnung und aus dem Buch „Still Life“ von Hans Hansen

 

Wie ist es nun: Reichen die Dinge über sich selbst hinaus, offenbaren sie durch ihre gegebene Darstellung ihr Wesen selbst oder aber sind die Dinge nur Artefakte unserer Wahrnehmung bzw. entstehen erst durch sie? 

Schon ganz zu Beginn meiner fotografischen Entwicklung hatte ich für mich selbst den Eindruck, eine gewisse „Präsenz“ in meinen Motiven wahrzunehmen, konnte dieses Gefühl jedoch damals nicht hinreichend verifizieren. Betrachte ich heute meine frühen Arbeiten und vergleiche sie mit der aktuellen Serie „Blätter“, dann fällt mir auf, dass es bereits bei meinen frühen Landschaftsaufnahmen unbewusstes Ziel gewesen ist, diese Präsenz, die ich heute als Wesen der Dinge verstehe, zu entdecken und sichtbar zu machen. 

Ein wenig ist das vergleichbar mit der Arbeit von Bildhauern, die mit Stein oder Holz arbeiten. Sehr häufig sagen diese, dass sie die finale Form des Kunstwerks bereits von vorneherein im Stein oder Holz wahrgenommen haben. "Die Form war schon da, ich musste sie nur freilegen". So ist es auch zum Beispiel mit meiner Blätterserie. Ich finde ein Blatt auf dem Boden und sehe sofort die endgültige Form in der final bearbeiteten Fotografie. Die im Blatt verborgene Entität zeigt sich mir sofort und ich mache sie dann durch meine "Zweite Schöpfung" sichtbar.

So bin ich immer auf der Suche nach dem Wesen der Dinge und immer mit dem Ziel, dieses in meinen Arbeiten sichtbar zu machen. Meine „Zweite Schöpfung“. 

Meine frühen Arbeiten zeigen Landschaften, insbesondere Berge. Ein Motiv, welches mich unbewusst stark angezogen hat (und es heute noch immer tut). Berge weisen eine Form auf, die Identität schafft, die wenn man sich künstlerisch damit beschäftigt dazu auffordert, Vereinfachung zu schaffen, das Spiel mit Form und Abstrahierung herausfordert. 

Einen Durchbruch in meiner fotografischen Entwicklung erreichte ich durch das Studium eines Ausstellungskatalogs zu einer längst vergangenen Ausstellung des bekannten amerikanischen Fotografen Paul Caponigro mit dem Titel „Paul Caponigro, Fotografien 1952-1982“. Dieser Katalog enthält eine Biographie Caponigros, die auf seine künstlerische Entwicklung hin ausgerichtet ist. Paul Caponigro beschreibt den Moment, in dem er der Präsenz in einem Motiv gewahr wird, als das Erleben einer einzigartigen Erregung: „Von all meinen Bildern haben für mich diejenigen die größte Bedeutung, bei denen es mich trieb, sie aus einem bestimmten Blickwinkel, in einem bestimmten Augenblick und in keinem anderen zu fotografieren, und bei denen ich mich weder kompositorisch noch sonst auf meine Fähigkeiten, ein Bild zu erzeugen, verlassen konnte. Man könnte sagen, dass ich ergriffen war.“


"Fotografien sind gewiss schöne Dinge, doch wenn sie nichts ausserdem wären, so würden sie ihren Zweck verfehlen. Die Gestaltung eines Fotos ist nur insofern relevant, als sie gleichsam Wegweise zu etwas Tieferem ist."

Paul Caponigro im Ausstellungskatalog „Fotografien 1952-1982“


Andreas Gursky – einer der bekanntesten Fotokünstler unserer Zeit – sagte dazu in einer sehenswerten Videodokumentation mit dem Titel „ANDREAS GURSKY – nicht abstrakt / Kunstsammlung NRW“ vor seiner Arbeit „Rhein I“ stehend (und über dieses Bild sprechend): „Die Entstehung des Bildes war vollkommen unbedarft. Es ist meine Joggingstrecke und irgendwann ertappte ich mich dabei, wie ich genau an dieser Stelle vertieft war auf diese Wasseroberfläche. Wenn man dann später die Kamera aufbaut, wird einem ja erst bewusst, „Mensch, was war denn da, was dich bewogen hat, die Kamera überhaupt erst da aufzubauen“ und dann muss man das rausfinden.“ Das Entstehen der Bildidee zu dieser fotografischen Arbeit, die eine Zeit lang die teuerste Fotografie der Welt war, war eher unbewusst, intuitiv geschehen und wurde dann zu einem späteren Zeitpunkt – bei der Wiederkehr mit der Kamera – rekonstruiert.

Ich finde,  eine gute Stelle, zu erwähnen, dass es aus meiner Sicht generell hilft, sich der Fotografie (als Fotograf und Betrachter) mit einer gewissen antiintellektuellen Haltung zu nähern. Auch eine Sichtweise Paul Caponigros. Abhandlungen und Informationen über den zu fotografierenden Gegenstand empfindet er als störend oder entgegenstehend einem direkten und intuitiven Zugang, den es jedoch braucht, um, wie er es ausdrückt: „das Wesen der Sache zu erspüren“.

Echte Kunst entsteht aus dem Unterbewussten der Künstler heraus. Aus ihrer unbewussten Verarbeitung aller weltlichen Eindrücke für die dann wieder eine Entsprechung auf Leinwand, Fotopapier oder in der Literatur gefunden wird. Genau das ist es, wenn Caponigro von „Ergriffenheit“ oder Gursky von „phänomenalem Überraschtwerden“ sprechen. 

Um an dieser Stelle einen weiteren sehr bekannten Künstler zu zitieren: Auch der amerikanische Maler Jackson Pollock war selbst überzeugt, dass seine Bilder Abbilder seiner Psyche waren: „Wenn man aus dem Unbewussten heraus malt, entstehen zwangsläufig Figuren“, so eines seiner allgemein recht bekannten Zitate. Und wenn es gelingt, dieses tiefe Abbild der Psyche / der Emotion des Künstlers auf dem finalen Bild sichtbar zu machen, dann erhält das Kunstwerk – Malerei und Fotografie sind nun eben zweidimensional – eine dritte Dimension: Die sogenannte „Durchdringung“ oder anders „Verkündung“. Dann wird die Präsenz oder Entität oder das Wesen des Dinges für den Betracher sicht- und spürbar.

Bei der Fotografie gilt jedoch, dass diese in den Bildern entstandene oder eingefangene Präsenz dann später noch in der Dunkelkammer (digital oder analog) herausgearbeitet werden muss. Die „zweite Schöpfung“ hat dann genau an diesem Punkt stattgefunden.

Alfred Stieglitz hat dazu sehr treffend gesagt: „Unter Äquivalenz wird ganz allgemein die Definition des künstlerischen Fotos als Summe der emotionalen Reaktionen des Fotografen auf das, was vor der Kamera ist und des Gefühls, mit diesem eins zu sein, verstanden.“

Für mich sind meine Fotografien - eben auch durch die starke Isolierung und Asbtrahierung - wie ein Fokus. Nicht nur ein Fokus des Lichts, mehr ein mentaler Fokus, ein Blick in eine tiefere Dimension des Lebens. Die Fotografien sind Schöpfung und Leben zugleich. 

In gleichem Maße sind sie – durch die starke Identifikation mit meinen eigenen Arbeiten – zudem ständige Konfrontation mit der eigenen Unzulänglichkeit.

An dieser Stelle gilt mein Dank meinem langjährigen Mentor Andreas Weidner, der mich mit seiner feinsinnigen Art und seiner eigenen Fotokunst unterstützt und begleitet und der mir mit meiner fotografischen Entwicklung an jeweils ganz entscheidenden Stellen die entscheidenden Impulse gegeben hat – ohne dabei eine Richtung vorzugeben. 

 

Sebastian Fink im Frühjahr 2023